Experten-Interview mit Konrad Wiesendanger von ergosens

Gesundheit hat viel mit Bewegung zu tun, doch nicht nur: Wenn das Gleichgewicht nicht stimmt – sei es durch räumliche Vorgaben am Arbeitsplatz, im Austausch mit Kollegen und Mitarbeitenden oder bei der eigenen Ausgeglichenheit – wird unser Wohlbefinden auf den Prüfstand gestellt. Mit Konrad Wiesendanger, Inhaber von ergosens, sprechen wir über Gesundheit am Arbeitsplatz, die „richtige“ Körperhaltung und welche Faktoren eine Rolle spielen, damit wir uns im Büro auch wirklich wohl fühlen.

Herr Wiesendanger, früher in der Schule hiess es immer „Setz dich gerade hin und hör auf zu zappeln!“ Was meinen Sie dazu?

Glücklicherweise haben die Erziehungswissenschaften erkannt, dass Bewegung die Entwicklung von Kindern fördert. Doch das stille und gerade Sitzen gilt auch heute noch als Zeichen für Aufmerksamkeit und Konzentration. Doch je mehr wir versuchen, Bewegung zu unterbinden, desto mehr Muskelspannungen treten auf. Wer sich jedoch bewegt, um sein Wohlbefinden aufrecht zu erhalten, ist aufnahmefähiger.

Sie haben einmal zu mir gesagt „Gesund sitzen ist nicht gleich gerade sitzen, gerade sitzen ist nicht gleich richtig sitzen“…

In meinen Referaten mache ich oft folgendes Experiment: Ich fordere die Teilnehmenden auf, richtig zu sitzen. Die meisten verändern daraufhin ihre Sitzposition und richten sich auf. Nun frage ich, weshalb sie nicht richtig gesessen sind, obwohl sie wissen, was richtig ist. Die Antworten reichen von «unbequem» über «anstrengend» bis «unnatürlich». Wie kann es sein, dass richtig Sitzen als Last empfunden wird? Wie kann jemand, der mich nicht kennt, für mich definieren, was «richtig» ist? Und was heisst «gerade» für uns, die wir die meisten Verrichtungen mit nur mit einer, nämlich der dominanten Hand ausführen?

Die Medizin gibt uns klare Vorgaben was eine gesunde Körperhaltung angeht. Oft sind diese auf den Durchschnittsmenschen anwendbar – diesen gibt es aber doch gar nicht!

Die Idee, einen gesunden Durchschnittsmenschen zu beschreiben, ist sinnvoll. Man gewinnt eine Orientierung, in welche Richtung man seine Lösungen suchen soll. Doch es ist kontraproduktiv, wenn der Durchschnittsmensch als das erstrebenswerte Ziel angesehen wird. Es geht vielmehr darum, den Unterschied zwischen der Norm und dem Individuum kennen und gestalten zu lernen. Die Körperhaltung des Durchschnittsmenschen wird meistens mit einem Foto oder einer Zeichnung dargestellt. Dabei geht vergessen, dass sie nur eine Momentaufnahme ist, ein Punkt, an dem man vorbeikommt, den man aber immer wieder verlässt.

Wie geht denn gesund arbeiten? Wie finde ich meine persönlich „richtige“ Körperhaltung?

In meiner Arbeit gehe ich vom Begriff der Homöostase aus. Wenn der Mensch in der Lage ist, sein inneres Gleichgewicht bei der Arbeit aufrecht zu erhalten, beziehungsweise wiederzuerlangen, arbeitet er gesund. Was bedeutet das? Bestimmend für das innere Gleichgewicht sehe ich unter anderem die Beziehung zum Arbeitgeber und zu den KollegInnen, die Zufriedenheit mit dem Arbeitsinhalt, das Gleichgewicht zwischen Leistung und Erholung sowie die Zuversicht, den Anforderungen gewachsen zu sein oder angemessene Unterstützung zu erhalten. Sie sehen, in meiner Beschreibung spielt die Körperhaltung höchstens eine untergeordnete Rolle. Ich bin überzeugt, dass wenn der Mensch sein inneres Gleichgewicht finden kann, wird er in jeder Situation die angemessene Körperhaltung finden und einnehmen.

Will man heutzutage als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen werden, gehört es einfach dazu, in die Gesundheit der Mitarbeiter zu investieren. Worauf sollte der Arbeitgeber hier achten?

Die Brisanz dieser Frage wird oft unterschätzt. Im Grunde genommen ist die Gesundheit der Mitarbeitenden Privatsache. Der Arbeitgeber kauft Arbeitsleistung ein und hat ein Interesse daran, dass sie langfristig erhalten bleibt. Arbeitsfähigkeit hat jedoch einiges mit Gesundheit zu tun, weshalb die Arbeitgeber um Gesundheitsthemen für ihre Mitarbeitenden nicht herumkommen. Deshalb ist Gesundheitsförderung oft eine Gratwanderung. Schnell kann sie als übergriffig empfunden werden.

Ich empfehle den Arbeitgebern eine sorgfältige Unterscheidung zwischen Betrieblichem Gesundheitsmanagement (BGM) und Betrieblicher Gesundheitsförderung (BGF). BGM ist eine Managementaufgabe. Dabei wird ermittelt, wie die Gesundheit der Mitarbeitenden durch Strukturen und strategische Entscheide beeinflusst wird. Dadurch kann BGF gezielt als flankierende Massnahme eingesetzt werden. Die Mitarbeitenden erkennen so den Zusammenhang zwischen Gesundheitsförderung und ihrer Arbeit leichter, als wenn sie mit einer gut gemeinten Giesskannenaktion konfrontiert sind.

Was verstehen Sie unter einer Giesskannenaktion?

Beispielsweise erkennt man, dass viele Menschen bei ihrer sitzenden Arbeitshaltung unter körperlichen Beschwerden leiden. Da liegt es nahe, präventiv für die ganze Belegschaft eine Sitzschulung durchzuführen. Der Effekt ist jedoch oft bescheiden und nicht nachhaltig. Die einen Mitarbeitenden leiden nämlich unter Lärm, andere unter Durchzug, wieder andere unter Blendung oder unter Konflikten. Weil alle im Sitzen leiden, bedeutet das nicht unbedingt, dass das Sitzen die Ursache für die Beschwerden ist. Wenn ich Ärger bei der Arbeit habe und es in mir alles zusammenzieht, werde ich von der Sitzschulung nicht gross profitieren.

Hand aufs Herz: Oft wird in ergonomische Büromöbel investiert, dann werden sie aber nicht wirklich gebraucht. Was läuft hier falsch?

Ergonomische Büromöbel können besser auf die unterschiedlichen Bedürfnisse unterschiedlicher Menschen reagieren. Ergonomische Büromöbel verschieben die Verantwortung für das Wohlbefinden in Richtung der Mitarbeitenden, was ich als sinnvoll erachte. Je mehr wir das Gefühl haben, selber etwas für uns tun zu können, desto freier fühlen wir uns. Das heisst aber nicht, dass man alle halbe Stunde die Tischhöhe verstellen muss. Ohne sorgfältige Einführung können ergonomische Büromöbel die Mitarbeitenden überfordern. In meinen Ergonomieberatungen ermuntere ich die Arbeitnehmenden, auf spielerische Weise irgendetwas am Mobiliar zu verstellen, wenn sie sich nicht mehr ganz wohl fühlen. Es ist egal was. Der Mensch spürt schon bei kleinen Veränderungen, ob diese in die richtige Richtung gehen oder nicht. Dabei geht es nicht um die richtige Einstellung, sondern um die Einstellung, die passt.

Genau, wir sprechen hier immer von der „Wohlfühlergonomie“. Wie weit ist denn der Arbeitgeber schlussendlich für die Gesundheit seiner Mitarbeiter wirklich verantwortlich?

Wie ich schon erwähnt habe, können unüberlegte Gesundheitsaktionen bei den Mitarbeitenden auf Widerstand stossen. Gesetzlich ist der Arbeitgeber verpflichtet, alles zu unterlassen, was die Gesundheit seiner Mitarbeitenden gefährdet. Doch es liegt auch im ureigenen Interesse der Arbeitgeber, etwas für das Wohlbefinden und die Loyalität seiner Mitarbeitenden zu tun. Zufriedene Mitarbeitende denken mit, tragen ihre Firma durch schwierige Zeiten und haben mehr Vertrauen, anzusprechen, was sie benötigen, um gut arbeiten zu können. In der Regel drehen sich dann die Diskussionen weniger um Gesundheit, als vielmehr darum, wie man gemeinsam mehr erreichen kann.

Sie arbeiten nach dem Prinzip der „ressourcenorientierten Ergonomieberatung“, es geht also um mehr als richtig sitzen. Was steckt dahinter?

Ergonomie als «Wissenschaft von der menschlichen Arbeit» umfasst weit mehr als nur den Körper und das Mobiliar. Das System Arbeit umfasst physiologisch/psychologische, infrastrukturell/räumliche und systemisch/organisationale Aspekte. In jedem dieser Aspekte können Ressourcen aktiviert werden, die die Arbeitsfähigkeit und die Befindlichkeit der Arbeitnehmenden verbessern. Es geht nicht um den perfekten Mitarbeitenden am perfekten Arbeitsplatz. Zum Beispiel kann ein lebendiges Team mit grossem gegenseitigen Vertrauen die Nachteile eines suboptimalen Arbeitsplatzes leicht kompensieren. Oder eine verbesserte Schalldämmung kann Konflikte vermindern und dadurch Schulter-Nackenbeschwerden vorbeugen.

Dieser umfassende Ansatz bedeutet aber keinen Mehraufwand, im Gegenteil. Die Beratungen kommen zielgenauer an. Da ich in der Regel mit Einzelberatungen arbeite, wird der Betrieb des Unternehmens kaum beeinträchtigt. Die Erfahrungen entstehen also während des Normalbetriebs direkt am eigenen Arbeitsplatz und nicht in einem anonymen Sitzungszimmer.

Sie sind in der ganzen Schweiz unterwegs und beraten Unternehmen zum Thema Ergonomie am Arbeitsplatz. Haben Sie einen abschliessenden Experten-Tipp auf Lager?

Allen, die mit Ergonomie zu tun haben, rate ich, beim Auftreten eines Problems zuerst genau nachzufragen, wie es wahrgenommen wird, was die betreffende Person bereits unternommen hat und wie man sich den gewünschten Zustand vorstellt. Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch Experte seiner selbst ist und es schade wäre, diese Ressource durch ein vorschnelles Besserwissen zu missachten.

Vielen Dank Herr Wiesendanger!

 


 

ergosens berät und schult Mitarbeitende in einem ressourcenschonenden Umgang mit dem Arbeitsplatz und begleitet Unternehmen bei der Gestaltung einer ergonomisch unterstützenden Arbeitsumgebung. Mit der ressourcenorientierten Ergonomieberatung vermittelt Konrad Wiesendanger nachhaltige Ergonomie auf drei Ebenen: Körperkompetenz, Infrastruktur, Kommunikation. Mehr Informationen finden Sie auf www.ergosens.ch.

 

 

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