Der Schrank des Grauens – Halloween Story

Es regnet an diesem kaltnassen Oktoberabend. Das Tageslicht schwindet bereits, doch das ist Tom egal. Er sitzt an seinem warmen, hell beleuchteten Schreibtisch, umgeben von seinen Arbeitskollegen. Es ist der 31. Oktober – Halloween – und nach der Geschichte vom letzten Jahr, hat Tom sich bewusst dazu entschieden, heute keine Überstunden zu machen und auf keinem Fall alleine im dunkeln Büro zurück zu bleiben. Nein, hier ist es hell und nett. 16:00 - Nur noch eine Stunde bis Feierabend. Perfekt.

Tom arbeitet an seinem Finanzbericht. Er hasst Finanzen, ist aber der Einzige, der sich darin auskennt. «Post!» hört er es rufen. Der Postbote ist heute wirklich spät dran, scheint was Wichtiges zu haben. Soll der Empfang sich darum kümmern. Klick, klick, klick… Das Zehnfingersystem kann Tom im Schlaf. Zum Glück, denn immerhin muss er seinem Chef alles noch in Worten erklären in diesem blöden Bericht. Plötzlich spürt er etwas Unerwartetes… Ein Hauch huscht über seine Wangen – was war das? Die Haare auf seinem Arm stellen sich auf, sein Herz beginnt schneller zu schlagen. Fängt der Horror von vorne an? Da! Das Fenster, es ist - offen. Ach so. «Ich werde langsam paranoid.» denkt sich Tom und schliesst es.

Doch irgendetwas ist anders. Fremder. Dieses Gefühl, dass etwas nicht ganz stimmt, beschleicht ihn. Tom spürt den Schmerz an der Wange bevor er merkt, was passiert. Er schreit laut auf vor Schreck und hört ein schreckliches, schallendes Lachen. Am Boden liegt das Gummiband, das ihn aus seinen Gedanken gerissen hat. Drei seiner Kollegen grinsen ihn an. «Angst, Tom? Wer hat es denn dieses Jahr auf dich abgesehen?» Tom antwortet nicht. Seine Oma hat ihm beigebracht: "Wenn du gehänselt und ungerecht behandelt wirst, wünsche deinem Peiniger nur Gutes und sage es dreimal leise vor dich hin. Du wirst sehen, das bewirkt Wunder." Pah, Wunder! Hätte er die Vorkommnisse vom letzten Jahr nur für sich behalten, dann würde er jetzt nicht von den "Kollegen" ausgelacht und mit Gummibändern aus dem Hinterhalt bombardiert…

Tom geht zurück an die Arbeit. Er registriert es nur am Rande, dass jemand an ihm vorbeigeht. Es ist der Postbote, doch was zum… Da war doch was, wieder dieser Schauer, diese Kälte und war das jetzt Einbildung oder haben seine Augen geglüht? Was das eigene Gehirn einem doch für Streiche spielen kann… «Tom!» er dreht sich um, der Postbote ist um die Ecke gebogen. Hat er eben seinen Namen gerufen? Er schaut seine Kollegen an, aber diese sind bereits wieder in ihre Arbeit vertieft. Als hätten sie nichts mitbekommen. Oh Gott! Zurück zum Schreibtisch. Einfach so tun als wäre alles normal. Trotz des klopfenden Herzens und der zittrigen Finger…

«Ganz ruhig. Schreib weiter.» Er findet kaum die richtigen Tasten, muss seinen Atem beruhigen, seine Hände und sein wild schlagendes Herz. "Was geht hier vor, wieso bin ich so nervös?" Tom atmet dreimal tief ein und aus. Alles gut. Er schreibt weiter. Alles klar, alles normal. Augen auf den Bildschirm. «Schreib weiter. Beruhige dich.», sagt er sich. In diesem Jahr haben wir also den GesamtumTOM… «Was ist das? Wieso steht da jetzt Tom?» Löschen. Und als seine Finger zur Delete-Taste abdriften, sieht er die folgenden Worte auf dem Bildschirm auftauchen…

Folge mir.
Folge mir.
Folge mir.


«Nein.» denkt er sich, «ich will nicht, nicht schon wieder!»
Er löscht die Worte, schreibt weiter, tut so als wäre nichts.

Folge mir, folge mir, fooolgeee miiir..!!!!!

Keine Chance. Schreiben kann er nicht. Er möchte schreien, möchte weglaufen, einfach seine Sachen zusammenpacken und nach Hause. Flüchten, nur weg hier, aber er kann nicht. Irgendetwas packt seine Aufmerksamkeit. Er wurde ausgewählt. Schon wieder. Sie scheint sein Schicksal zu sein, diese Brücke, die einmal im Jahr aufgeht zwischen dieser und der Anderswelt. Tom kann nicht leugnen, dass er davon in den Bann gezogen wird. Hier passiert etwas Unglaubliches. Etwas Überirdisches. Etwas, dass in sein tiefstes Innerstes vordringt. Dieser Drang, dieses unbeschreibliche Gefühl wissen zu wollen was hier vor sich geht, lässt ihn nicht los. Was will die Anderswelt von ihm? Sein Herz klopft wie wild als er – unauffällig – seinen Schreibtisch verlässt, um dem Postboten mit den glühenden Augen zu folgen.

Der Keller, na klar geht es in den Keller. Die Kälte scheint von hier unten zu kommen und legt sich wie ein Schleier um seine Haut. Langsam steigt er die Treppe hinunter. Hier gibt es keine Fenster, nur feucht-modrige Luft und Schimmelspuren. Oder liegt das an dem Adrenalin in seinem Blut, dass Tom kaum atmen kann? Bääh, diese dicken Spinnen mit ihren Netzen überall. Erst mal hell machen. Hell ist gut. «Klick». Die traurige, alte Büroleuchte gibt ein schummriges, gähnendes Licht ab. «Ich sollte unseren Einkäufer mal zur JOMA schicken.» Das geht Tom durch den Kopf, als er den Raum scannt. Da! Ein schwaches Glühen erreicht ihn aus der dunkelsten Ecke des Raumes…

Der Schrank, von ihm geht ein kaltes und unheimliches Licht aus. Wie der kaltnasse Herbstnebel zieht es aus den Ritzen raus, direkt in seine Richtung. Tom streckt die zittrige Hand aus. Will es berühren, es fühlen… Seine Atmung wird flacher, der Puls rast. Der glühende Nebel berührt seine Fingerspitzen, eine unbeschreibliche Kälte durchdringt ihn. Der Nebel legt sich um seine Finger, umschwebt seine Hand, es wird immer kälter und kälter… «AAAAAHHHHH!!!» Tom hört sich selbst vor Schreck schreien. Es passiert zu schnell um zu reagieren und ihm wird schlecht vor Angst als ihn eine unsichtbare Kraft packt um ihn aus seiner Welt zu reissen.

Stille. Kälte. Ein komisches, gleissendes Licht. Schatten um ihn herum, wo ist Tom gelandet? Das grelle Licht wird weicher, die Schatten deutlicher. Es sind Menschen, die hier um ihn sind. Aber etwas stimmt mit ihnen nicht. Sie arbeiten an Schreibtischen, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet, glasige, gerötete Augen. Die Wangen sind eingefallen, fast so, als wären diesen Menschen Zombies und doch sind sie es nicht. Niemand lächelt, niemand sieht unbeschwert aus. Tiefe Sorgenfalten zeichnen die Gesichter…  Diese Menschen sehen aus wie – Arbeitszombies. Genau. Plötzlich knallt eine Türe. Ein gut gekleideter Mann kommt aus seinem Büro, scheint der Chef zu sein. Tom registriert die Zornesader an seiner Schläfe als der Chef direkt und in scharfem Schritt auf ihn zukommt und ihn anbrüllt: «Herrgott nochmal Tom! Wo sind die Arbeitsberichte? Die Rechnungen sind nicht raus und ich habe einen Stapel Reklamationen zu bearbeiten! Und Sie liegen hier herum!!! Zu nichts sind Sie zu gebrauchen!» Tom ist so perplex von der ganzen Situation, dass er gar nicht realisiert hat, dass er auf dem Boden liegt. «Ich… ääh…» stottert er als er vom wütenden Zombiechef zu seinem Arbeitstisch gezerrt wird.

Es ist der blanke Horror! Ein starrer Tisch ohne Höhenverstellung, verdreckt und verstaubt. Darauf warten Berge von Papierstapeln. Es hat keinen Sinn, Tom wird vom Chef unsanft auf den Bürodrehstuhl gestossen. «Und jetzt an die Arbeit!» bellt er ihm noch zu, bevor er verschwindet. Aber nicht, ohne einem der Arbeitszombies noch ein paar wüste Worte an den Kopf zu schmeissen. Was für schreckliche Arbeitszustände!

Der Stuhl ist alt und abgesessen, Tom merkt jetzt schon, wie sein Rücken protestiert. Die Büroleuchte flackert und seine Augen müssen sich enorm anstrengen, den Bildschirm trotz der undankbaren Reflexblendungen erkennen zu können. Aber es nützt alles nichts. Tom macht sich an die Arbeit.

Es dauert seine Zeit, aber die Papierstapel schrumpfen. Toms Rücken schmerzt und sein Nacken ist verspannt. Ausserdem hat er schlimme Kopfschmerzen vom angestrengten in-den-Bildschirm-starren und der unergonomischen Haltung. Der Tisch ist absolut nicht auf seine Grösse ausgerichtet! Aber wenigstens kriegt er die Arbeit fertig, nur noch ein Papier… Doch was…? Tom kriegt fast einen Nervenzusammenbruch, als die Papierstapel wie von Zauberhand wieder auf die ursprüngliche Grösse anwachsen… Tom steht auf um zu gehen. Doch plötzlich steht der Zombiechef vor ihm – wo ist der denn jetzt nur so schnell hergekommen? "Sie wollen schon gehen, Tom?" ein furchterregendes Grinsen, ein Knall und Tom sitzt wieder an seinem Platz mit den Papierbergen. Das fiese Lachen seines Chefs hallt in der schlechten Akustik des Raumes nach. "MUAHAHAHAHAAAA!" Es gibt kein Entrinnen. Ist Tom in dieser schrecklichen Welt für immer gefangen?

Tage vergehen. Toms Wangen sind eingefallen, die Augen gerötet und glasig. Sorgenfalten zeichnen langsam aber sicher sein Gesicht. Ihm wird bewusst, dass er auch zum Arbeitszombie wird. Stück für Stück. Doch das ist kein Leben, nein. Aber Tom will sich auch nicht auflösen. Wie kommt er bloss aus diesem lebendig gewordenen Albtraum raus? Es scheint aussichtslos. "Ich brauche ein Wunder!" Die Türe knallt. Oh nein, der fiese Chef… und schon legt er los und flucht und lässt seinen fiesen Wortschwall über Tom hinweg. "Ein Wunder, wo ist mein Wunder?" denkt sich Tom verzweifelt. "Wenn du gehänselt und ungerecht behandelt wirst, wünsche deinem Peiniger nur Gutes und sage es dreimal leise vor dich hin. Du wirst sehen, das bewirkt Wunder." Der Spruch seiner Oma geht Tom durch den Kopf.

"Ich wünsche dir nur Gutes" - Tom dreht sich dem Chef zu.
"Ich wünsche dir nur Gutes" – Toms Stimme wird lauter, bestimmter. Sein Zombiechef fängt an zu zittern, weisser Nebel zieht wie Rauch über ihn hinweg.
"ICH WÜNSCHE DIR NUR GUTES!!!!" Tom brüllt jetzt. Seine Kraft scheint mit der Kraft seiner Stimme mehr und mehr zu wachsen. Ein unerträgliches Geräusch "UAAAAHHHHHH!!!" ein Schrei, spitz und grell und überall dieser Nebel. Tom sieht nichts mehr. Er hört nur noch seinen Chef schreien.

Dunkelheit. Tom hört sein Herz hämmern, hört seinen flachen Atem. Wo ist er? Was passiert? Er erkennt Umrisse. Ein schummriges, gähnendes Licht – eine Glühbirne! Und da – der Schrank. Tom wurde ausgespuckt, rausgeworfen aus der Welt der Arbeitszombies und befindet sich wieder im Keller, im Gebäude in dem er arbeitet. Er schaut auf die Uhr: 16:15 – noch 45 Minuten bis Feierabend. Perfekt. Er rappelt sich auf und weiss, dass er für dieses Jahr den Halloween Horror überstanden hat. Er schaut zum Schrank des Grauens, der jetzt unschuldig und harmlos da steht. Tom dreht ihm den Rücken zu um nach oben zu gehen. "Autsch!" etwas trifft ihn am Hinterkopf und fällt zu Boden. Tom liest das Papierflugzeug auf, das ihn getroffen hat und entfaltet das Papier: "Wir kriegen dich, nächstes Jahr!" steht in krakeliger Schrift drauf. Als Tom es zu Boden wirft, geht es in Flammen auf. Ein letztes Mal fährt ihm die Kälte durch die Glieder. Ein letztes Mal – für dieses Jahr.

Kommentare

Danke Uschi, genau das wollten wir erreichen :)

Gänsehautfeeling...grrrrr….

Danke, Senior Chef ;)

gruselig aber saugut. Kompliment.

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